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| Gedächtnisorte festhalten Essai (en langue allemande)
Der griechische Lyriker Simonides von Keos galt in der Antike als Begründer der Gedächtniskunst. Von ihm ist folgende Geschichte überliefert: Anlässlich eines Festmahls hatte der Dichter für seinen Gastgeber Skopas Lieder vorgetragen. Als er nach seiner Darbietung den Raum verließ, stürzte plötzlich die Decke des Festsaales ein und begrub die eingeladenen Gäste unter den Trümmern. Simonides überlebte als einziger. Als es um die Identifizierung der bis zur Unkenntlichkeit entstellten Leichen ging, konnte er sich aus dem Gedächtnis an den Platz jedes einzelnen erinnern und dadurch den Angehörigen eine persönliche Bestattung der Opfer ermöglichen.
Diese allegorische Geschichte enthält viele Elemente, die noch heute unsere kulturellen Vorstellungen von Erinnerung und Gedächtnis prägen: die Verbindung eines markanten historischen Ereignisses mit dem Katastrophischen und Schicksalhaften, seine Verankerung am Ort des Geschehens, die nachfolgende individuelle und kollektive Trauerarbeit sowie die Fragen von Zeugenschaft und Tradierung historischen Wissens. Nicht zufällig setzt genau an dieser Schnittstelle das visuelle Gedächtnis als Grundlage der Mnemotechnik an. Für Simonides war die imaginierte topographische Ordnung der Dinge Voraussetzung für ein exaktes Erinnern. So baute der römische Philosoph und Politiker Cicero in seinem Buch De Oratore (Vom Redner) im ersten vorchristlichen Jahrhundert auf der Simonides-Erzählung die Möglichkeiten zur Förderung der Gedächtnisleistung auf: „Es müßten daher jene, die dieses Geistesvermögen üben wollten, gewisse Plätze auswählen, das, was man im Gedächtnis behalten wollte, sich unter einem Bild vorstellen und in diese Plätze einreihen. So würde die Ordnung der Plätze die Ordnung der Sachen bewahren; die Sachen selbst aber würden durch Bilder bezeichnet, und so könnten wir uns der Plätze statt der Wachstafeln und der Bilder statt der Buchstaben bedienen.“
Topografie und Geschichte sind also in der griechisch-römischen Tradition über die Brücke des visuellen Gedächtnisses untrennbar miteinander verbunden. Die in der antiken Rhetorik grundgelegte Wechselwirkung von Wort und Bild, die Verbindung von abstrakten Begriffen mit visuellen Vorstellungen verschob sich jedoch spätestens im 19. Jahrhundert zugunsten des Sehsinns. Mit der Fotografie erhielten die imaginierten Bilder ein physisches Trägermaterial. Erstmals konnten die Sachen selbst nicht nur durch Bilder bezeichnet, sondern in Form von Abbildern fixiert werden. Die Wachstafeln wurden durch Bilder ersetzt, denn in der Vorstellung ihrer Erfinder waren Fotografien von der Natur selbst mit Licht geschriebene Zeugnisse des Realen. Auf diesem Realitätsversprechen, das Roland Barthes in seinem Buch Die helle Kammer mit dem Begriff des Ça-a-été (So ist es gewesen) bezeichnete, beruhen bis heute die Stärken und Schwächen dieses allgegenwärtigen und vielschichtigen Mediums. Auch wenn wir genau wissen, dass Fotografien visuelle Kontrukte sind, verwenden und lesen wir sie in unserem Alltagsgebrauch oft als Existenzbeweise. Selbst das digitale Zeitalter und seine Möglichkeiten der unbegrenzten und unsichtbaren Bildmanipulation kann unserer Sehnsucht nach dem perfekten Duplikat der Wirklichkeit offenbar nichts anhaben. Im Gegenteil, im Universum der technischen Bilder scheinen Fotografien die letzten Reste des Authentischen zu verkörpern.
Die Ambivalenz des fotografischen Bildes zwischen Dokument und Konstrukt ist in den letzten Jahren nirgends so deutlich geworden wie im Bilderstreit um die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Shoa. An den Grenzlinien des Vorstellbaren sind auch die Grenzen des Darstellbaren deutlich geworden. Eine radikal ikonoklastische Position („Es kann und darf keine Bilder der Massenvernichtung geben!“) steht dabei einer vermeintlichen Errettung durch die Bilder entgegen („Die Bilder sind die letzten Existenzbeweise der historischen Fakten.“). Symptomatisch für diese Diskussionen waren die Polemiken von Claude Lanzmann gegen Steven Spielbergs Film Schindler’s list (1994) und die Ausstellung Mémoires des camps (2001), die Diskussionen über die beiden Fassungen der sogenannten Wehrmachtsausstellung (1995 und 2001) oder zuletzt die Ausstellung Les Français sous l’Occupation (2008).
Folgt man den Thesen über das kollektive Gedächtnis des 1945 in Buchenwald ermordeten Soziologen Maurice Halbwachs, so sind moderne Gesellschaften prinzipiell darauf angewiesen, ihr auf unmittelbarer Zeitzeugenschaft beruhendes kommunikatives Gedächtnis nach spätestens drei Generationen (oder cirka 50 Jahren) in ein kulturelles Gedächtnis zu überführen, wollen sie nicht geschichtsblind werden. Wenn die letzten Zeitzeugen sterben, gewinnen die Orte des Geschehens und die materiellen Zeugnisse der Vergangenheit zwangsläufig an Bedeutung. Und was wäre im Zeitalter der Massenmedien naheliegender, als in filmischen und fotografischen Bildern jene Mittel zu suchen, die uns vor dem Entschwinden der Vergangenheit in der Gegenwart bewahren können? Der Angst um den Verlust der unmittelbaren Zeugenschaft halten wir vielfach die Beweiskraft der Bilder entgegen. Dies gilt für die Nutzbarmachung historischer Quellen gleichermassen wie für die Produktion aktueller Fotografien von den sich verändernden historischen Schauplätzen und Erinnerungslandschaften.
Im Kontext dieser Entwicklung sind die fotografischen Arbeiten vieler zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler zu sehen, die sich seit den 1970er Jahren auf unterschiedliche Art und Weise mit der fortschreitenden Musealisierung der Gedächtnisorte aus der Zeit von 1933 bis 1945 beschäftigen. Bereits 1955 hatte Alain Resnais in seinem Film Nuit et Brouillard (Nacht und Nebel) das Phänomen der Erinnerung an die Vergangenheit über visuelle Quellen und Schauplätze der Geschichte thematisiert. Den in schneller Abfolge montierten Schwarz-Weiss-Dokumenten stellte er in Farbe gedrehte eindringliche Kamerafahrten von Auschwitz entgegen, wo knapp zehn Jahre nach der Befreiung Gras über die Geschichte zu wachsen begann. Einer der ersten Künstler, die sich im deutschsprachigen Raum mit dem Musealisierungsprozess der ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager auseinandersetzte, war Jochen Gerz mit seiner provokativen Installation Exit. Das Dachau Projekt (1974). In den 1980er und 1990er Jahren wurden die ehemaligen Lager für eine ganze Generation von Fotografen erneut zu Orten der Auseinandersetzung mit der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Tradierung von Geschichte. Buchpublikationen wie jene von Erich Hartmann (Stumme Zeugen, 1995) , Michael Kenna (Impossible to forget, 2001), Dirk Reinartz (Totenstill, 1994) oder Axel Thünker (Schweigendes Grauen,1995), um nur die wichtigsten zu nennen, waren das Resultat intensiver und teilweise jahrelanger Auseinandersetzungen mit den Erinnerungsorten an Krieg und Verbrechen im Nationalsozialismus. Sie versuchen eine Art fotografische Verdoppelung der Gedenkhaltung. Ihre quasi zeitlose – oder auf die Zeit der historischen Ereignisse bezogene – Schwarz-Weiss-Ästhetik ist nicht immer frei von Pathos und einer gewissen Überästhetisierung, die Verweise auf die Gegenwart der Gedenkstätten eher verwischt als deutlich macht. Medienreflexiver sind im Gegensatz dazu weniger bekannte Arbeiten von Bildautoren wie Heimrad Bäcker und Klaus Fritsch (Mauthausen, 1994), Stefanie Grebe (Photographien aus Buchenwald, 1995), Rainer Iglar (Mauthausen, 1974/1983) oder Stefanie Unruh (Bildlager – Lagerbilder, 1991-1993). Sie nähern sich der Kollision von Gegenwart und Vergangenheit teilweise durch fotografische Verfremdungseffekte. Eine dritte, dokumentarisch-distanzierte Haltung nehmen hingegen die Projekte von Henning Langenheim (Memorials Archiv, 1986-94) oder Reinhard Matz (Die unsichtbaren Lager, 1987-1992) ein. Ihnen geht es um Fragen der Abwesenheit von Spuren an nicht musealisierten Orten, oder, im Gegenteil, um eine kritische Befragung des Transformationsprozesses der Gedenkstätten in unserer Gedenkkultur. Zuletzt ist eine neue Generation von jungen Fotografinnen und Fotografen aufgetreten, die sich den Gedächtnisorten mittels Farbfotografie und in einer neuen Form des analytischen Dokumentarstils nähern. Beispielhaft dafür seien die Arbeiten von Tatiana Lecomte (Orte, seit 2000) oder Léa Eouzan (Auschwitz, 2006) genannt, die explizit von der Gegenwart ausgehen, um die Wirkung der Gedächtnisorte zu dekonstruieren.
Nicht nur die Fotografie, sondern auch die Geschichtswissenschaften haben in den letzten Jahren neue Methoden und Ansätze entwickelt, um sich der jüngeren Zeitgeschichte kritisch zu nähern. Oftmals fand die fotografische Spurensuche ihre Entsprechung in der Forderung der Lokal- und Regionalgeschichte nach einem Dig where you stand! In Vorarlberg waren und sind dies vor allem die Arbeiten der Historiker der Johann-August-Malin-Gesellschaft. Pierre Noras Definition von Erinnerungsorten (lieux de mémoire) sowie seine idealtypische Unterscheidung zwischen Geschichte und Gedächtnis wurde für viele zum erkenntnisleitenden Motiv in der Beschäftigung mit einer Vergangenheit, die nicht vergehen sollte. Wie in einem kommuniziernden Gefäß steht der Konjunktur der Erinnerungskultur jedoch das Verschwinden der sichtbaren Zeichen der Vergangenheit entgegen. Denn abseits der offiziellen Gedenkstätten hat die Geschichte vielerorts keine Spuren hinterlassen. Oder die wenigen Spuren sind längst verwischt. Erst die exakte Rekonstruktion der Ereignisse kann aus blinden Flecken des Sehens Orte des historischen Wissens machen. Und weil die ausgewählten Orte durch ihre jeweilige Fragestellung an die Vergangenheit definiert sind, sagen sie nicht nur etwas über das Geschehene, sondern auch sehr viel über den Wissensstand der Gegenwart und unser Interesse an der Vergangenheit aus. Persönliche Schicksale von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen, von Flüchtlingen und Fluchthelfern, von Soldaten und Deserteuren machen bestimmte Orte durch ihre Erzählung zu Schauplätzen der Geschichte: So ist es gewesen, hier hat es stattgefunden! Bilder und Buchstaben sind dadurch untrennbar miteinander verbunden.
Wenn Sarah Schlatter heute solcherart definierte Gedächtnisorte in Vorarlberg mit ihrer Kamera festhält, so tut sie dies freilich im Wissen um den Gegensatz zwischen beredter Geschichte und stummer fotografischer Zeugenschaft. Fotografien des Silvretta-Stausees, eines kleinen Grenzüberganges bei Feldkirch oder einer Verkehrsbrücke in Lauterach sind zunächst Bilder einer Landschaft, einer Grenze oder einer Brücke. Durch ihren dokumentarischen Stil hält die Fotografin bewusst eine fragende Distanz zu den Geschehnissen und ihren Orten. „Hier soll etwas geschehen sein?“ ist man zu fragen versucht. Aber gerade in dieser wohlkalkulierten und ästhetisch präzise formulierten Alltäglichkeit und Banalität der Örtlichkeiten spüren wir die Vergänglichkeit von Geschichte, unseren ebenso notwendigen wie verzweifelten Versuch, der Vergangenheit ein wenig Erinnerung abzutrotzen. Die Abwesenheit expliziter historischer Spuren macht die Bilder zu Projektionsflächen der Gegenwart, in die sich unser Wissen (oder Nichtwissen) um das Geschehene einschreiben kann.
In diesem Sinne sind die Fotografien Sarah Schlatters zeitgenössische rhetorische Figuren der Gedächtniskunst. Sie bilden in interpretativer Form Wirklichkeit ab, sie bezeugen ein Hier und Jetzt, indem sie dem unaufhaltsamen Fluß der Zeit eine kleine Probe entnehmen. Sie können und wollen die Ereignisse nicht aufschlüsseln, veranschaulichen oder gar erklären. Aber sie können visuell Fragen stellen. Genau darin liegt ihre Qualität und Relevanz für unsere Gegenwart. Denn im kulturellen Gedächtnis gibt es keine Bilder außerhalb ihrer sprachlichen Benennung, ebenso wenig wie es eine reine Faktengeschichte ohne Verbildlichung geben kann.
Literaturhinweise
Darstellung des Unvorstellbaren, Themenheft der Zeitschrift Eikon 14/15 (1995), hrsg. von Arno Gisinger
Lager, Gefängnis, Museum. Fotografie und industrieller Massenmord, Themenhefte der Zeitschrift Fotogeschichte 54 und 55 (1995)
Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998
Clément Chéroux (Hg.), Mémoire des camps. Photographies des camps de concentration et d'extermination nazis, 1933-1999, Paris 2001
Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem. Aus dem Französischen von Peter Geimer, München 2007
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