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| Photographies du chateau Tyrol - un essai (en allemand)
Schloss Tirol in der Fotografie
In den Junitagen des Jahres 1854 trug sich ein gewisser August Lorent in das Besucherbuch von Schloss Tirol ein und vermerkte nicht ohne Selbstironie: Dr. und Fotograf, beide originell.1 Hinter dem Namen verbarg sich ein damals 41jähriger Naturwissenschafter und Fotograf aus Mannheim, der in Venedig lebte und mit spektakulären Bildern aus der Lagunenstadt seine ersten internationalen Erfolge auf dem Gebiet der noch jungen Kunst der Fotografie feierte. Knapp zwei Jahrzehnte später, nach ausgedehnten Reisen und intensiven fotografischen Tätigkeiten, kehrte Jakob August Lorent nach Meran zurück, wo er sich wie viele seiner Zeitgenossen aus gesundheitlichen Gründen niederließ und bis zu seinem Tode 1884 lebte.2 Aus dieser Schaffensphase sind rund einhundert fotografische Motive aus ganz Südtirol überliefert; einige ihrer schönsten sind Ansichten von Schloss Tirol.3
Unmittelbar nach ihrer zweiten Ankunft in Meran hinterließen Lorent und seine Frau Kathinka abermals ihre Unterschrift im Besucherbuch.4 Möglicherweise entstanden in dieser Zeit jene Bilder, die grundlegend wurden für die Art und Weise, wie sich viele seiner Fotografenkollegen in den folgenden Jahren dem Bauwerk näherten. An der damals noch baufälligen Burgruine musste der Fotograf, der bereits im Württembergischen Raum Schlösser und Burgen fotografiert hatte, besonderen Gefallen finden. Mit seinen präzise komponierten Aufnahmen hielt er die letzte Phase vor den ersten großen Renovierungsarbeiten von Schloss Tirol unter dem Denkmalschützer David von Schönherr fest.
Freilich entstanden die Bildprogramme der ersten Fotopioniere nicht im ästhetisch luftleeren Raum. Gerade ein Fotograf wie Lorent hatte mit dem neuen Medium zu arbeiten begonnen, als dieses nach Anerkennung gegenüber den etablierten Künsten wie Grafik und Malerei rang. Die ersten Landschaftsfotografen mit ihren grossen Plattenkameras waren nach eigenem Selbstverständnis wie die Maler mit ihren Staffeleien unterwegs und suchten sich die jeweils besten Standpunkte und idealsten Lichtverhältnisse. Sie waren nicht nur Bildproduzenten, sondern arbeiteten ihre großformatigen Negative und Abzüge auch selbst aus. Viele Maler des frühen 19. Jahrhunderts – und nicht nur die vermeintlich gescheiterten, wie ein altes Vorurteil glauben machen will – wendeten sich mit hohen Ansprüchen der Fotografie zu. Betrachtet man so manches Beispiel aus der Landschaftsmalerei in Tirol aus der selben Zeit5, so sieht man deutlich die fruchtbaren Wechselwirkungen zwischen der neu aufkommenden Fotografie und den bekannten Techniken von Zeichnung, Grafik, Aquarell und Malerei.
Von der "malerischen Reise" inspiriert waren zweifellos auch die Schloss-Tirol-Ansichten des französischen Fotografen Pierre Eléonor Ernest Lamy. Sie standen allerdings unter anderen Vorzeichen und hatten einen präzisen Verkaufs- und Verwendungszweck: Die kleinformatigen Albuminabzüge auf Karton mit eingeprägten Bildlegenden fanden bei einem vornehmlich bürgerlichen, städtischen Publikum großen Anklang. Das sogenannte Cabinet-Format war für die damals üblichen genormten Steckalben bestimmt und erlaubte eine individuelle Zusammenstellung von privaten Familienporträts ebenso wie von bildlichen Reisen in ferne Länder und exotische Landschaften. Ernest Lamy unterhielt bis in die 1880er Jahre mehrere Porträtateliers in Paris. International bekannt wurde er durch seine Stereofotografien aus den Pyrenäen und den Tiroler Alpen.6 Im Februar 1875 stellte er der Société Française de Photographie in Paris einige seiner besten Stereoaufnahmen von einer ausgedehnten Reise durch die italienischen Alpen vor.7 Die beiden in diesem Katalog abgebildeten Beispiele von Schloss Tirol dürften demnach um 1874 entstanden sein.8
Mit seinen Fotografien traf Lamy den Geschmack seiner Zeitgenossen, die das Sublime der Alpenlandschaften entdeckten. Gleichzeitig war die Alpenregion – und damit auch Schloss Tirol – eine der wichtigen Stationen auf dem Weg in den Süden.9 Der Grand Tour als intellektueller Initiationsritus für jeden gebildeten Mitteleuropäer wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Fotografie neu belebt und visuell begleitet.10 Auch Jakob August Lorent hatte vor seiner endgültigen Niederlassung in Meran die klassischen Kulturstätten aller Orientreisenden besucht: Andalusien, Algerien, Ägypten und Nubien, Palästina, Griechenland, Sizilien. Mit einem solcherart geschulten Auge richtete er in den 1870er Jahren seine Plattenkamera auf die vielen Kulturdenkmäler des Etschtales.
Allein die beiden Beispiele Lamy und Lorent belegen jeweils auf ihre Art die besondere Aura und Attraktivität der Burg im ausgehenden 19. Jahrhundert. Blättert man in den Besucherbüchern von Schloss Tirol – und hier haben bei weitem nicht alle Reisenden und Wanderer ihre Unterschrift hinterlassen – so findet man dutzende Einträge von Fotografen aus aller Welt. Im Sommer 1884 war beispielsweise der junge Alfred Stieglitz (1864-1946) zu Besuch.11 Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich gerade seinen ersten Fotoapparat gekauft, Jahre später sollte er zu einem der bedeutendsten und einflussreichsten Fotografen der Welt werden. Am 10. August 1893 trug sich Josef Maria Eder (1855-1944) in dasGästebuch ein. Er war damals Direktor der k.k. Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie und Reproduktionsverfahren in Wien und einer der weltweit angesehensten Experten auf dem Gebiet der Fotografie. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.12 Leider sind nur von wenigen dieser illustren Fotografen, die Schloss Tirol aufsuchten, fotografische Belege mit Burgansichten erhalten geblieben.
Anders verhält es sich hingegen mit den im nahe gelegenen Meran niedergelassenen Lichtbildnern.13 Die meisten von ihnen verewigten sich bei der einen oder anderen Gelegenheit in den Büchern von Schloss Tirol. In der Stadt Meran gab es um 1880 bereits mindestens sechs bedeutende Fotografenateliers (Lorenz Bresslmair, Bernhard Johannes, Franz Largajolli, Hildebrand von Perckhammer, Peter Moosbrugger, Josef Holzner). Auffallend an dieser Generation von Fotopionieren war die Tatsache, dass nahezu alle von auswärts kamen und in der aufblühenden Kurstadt mit europäischer Ausstrahlung zu recht große geschäftliche Möglichkeiten sahen. Tatsächlich war die mondäne Kurgesellschaft neben den wohlhabenden Meranern die erste Klientel für professionelle Porträtfotografen.14
Aber auch die beiden anderen klassischen Genres der Fotografie – Landschaft und Architektur – verkauften sich gut, in erster Linie bei Touristen und Kurgästen. Besonders beliebte Motive waren die vielen Burgen und Schlösser des Landes. Als Stammburg der Grafen von Tirol kam Schloss Tirol in dieser Hinsicht eine herausragende Bedeutung zu. Außerdem bot seine topografische Lage alle Ingredienzien für pittoreske Ansichten (s. Kapitel 1). Mit Ausnahme von Franz Largajolli (1838-1898), der nachweislich 187115 auf Schloss Tirol war, konnten aus dieser Periode von allen namhaften lokalen Fotografen Abbildungen von der Burg gefunden werden. In dieser Publikation sind einige dieser frühen An-sichten abgebildet: Eine Fotografie von Peter Moosbrugger (1831-1883), der über Nizza und Bozen 1865 nach Meran gekommen war und um 1875 unter anderem Schloss Tirol fotografierte. Lorenz Bresslmairs (1834-1882) erste Aufnahmen von der Burg entstanden vielleicht noch ein wenig früher. Sein erster Besuch auf Schloss Tirol lässt sich mit 1860, noch mit Wohnsitz in Niederösterreich, datieren. Am 20. März 1864 trug er sich abermals ins Besucherbuch ein, diesmal jedoch bereits mit Wohnsitz Meran.16 1861 hatte er als erster ein Atelier in Meran eröffnet.
Und schließlich die Fotografien von Hildebrand von Perckhammer (1855-1911), der sich ab 1879 in Meran niederließ und unmittelbar danach mehrere Male Schloss Tirol besuchte.17 Zuweilen führten auch die bekanntesten Fotografen der weiteren Umgebung Motive von Schloss Tirol in ihrem Repertoire, wie etwa Anton Gratl (1838-1915) aus Innsbruck.
Der Fotograf mit der größten internationalen Ausstrahlung in Meran war zweifellos Bernhard Johannes (1846-1899). Er war 1874 – im selben Jahr wie Lorent und Lamy – als Hoffotograf aus Partenkirchen auf Schloss Tirol.18 Bei einem weiteren Besuch zehn Jahre später bezeichnete er sich als k. k. Hoffotograf. Ab 1883 wechselte auch er seinen Wohnsitz, zog nach Meran und ließ sich hier eine Villa mit Fotoatelier errichten. Bernhard Johannes hatte sich als Hochgebirgsfotograf einen Namen gemacht und dokumentierte in den 1880er und 1890er Jahren neben seiner Porträttätigkeit im Studio systematisch die Kulturlandschaft Südtirols. Von Bernhard Johannes, der allzu früh verstarb, und seinen Nachfolgern sind im sorgsam gehüteten Familienarchiv noch sehr viele Ansichten von Schloss Tirol erhalten.19 Für das Kapitel über die Blicke auf Schloss Tirol wurden für diesen Katalog zwei frühe unveröffentlichte Motive mit jeweils einer Ansicht von Westen und von Osten ausgewählt.
Dass Bernhard Johannes nicht nur ein begnadeter Landschaftsfotograf, sondern ebenso ein Meister der Inszenierung von Menschen war, lässt sich an zwei Beispielen belegen, die mit Schloss Tirol als Metapher im Hintergrund operieren: zum einen die Abbildung 36 des Saltners Franz Waldner, genannt der Streaber Franz, unter einem Rebenbogen, und zum anderen die Aufnahme von der Eröffnung des Schießstandes auf der Brunnenburg 1898, die kurz vor seinem Tod entstand. Dieses Erinnerungsbild an ein historisches Ereignis in Anwesenheit des Thronfolgers Erzherzog Ferdinand ist ein wunderschöner Beleg für das im 19. Jahrhundert beliebte Phänomen der Massenaufnahme, wie sie in ihrer Präzision nur die Fotografie mit Plattenkamera und überdimensional großen Negativen zu schaffen vermochte. Der Aufnahmevorgang selbst beeindruckte die Protagonisten, wie die Meraner Zeitung wenig später berichtete: Doch nun wickelte sich ein für jeden Betheiligten unvergeßliches Schauspiel ab. Hofphotograph Johannes hatte mit kunstverständigem Auge ein Gelände im Hintergrunde das Schloß Tirol zu einem Massengruppenbilde ausgesucht. Die Wahl des Platzes war eine so ausgezeichnete, dass das Arrangement der Gruppen, viele Hunderte von Menschen, dem Leiter der Meraner Volksschauspiele Herrn Wolf wahrlich geringe Mühe machte.21 Nicht zufällig benötigte diese fotografische Inszenierung einen Theaterregisseur, der ähnlich wie bei den großen Volksschauspielen die Massen dirigierte und gleichzeitig die gesellschaftlich definierten Hierarchien in der Gruppenaufstellung organisierte.
Auch andere Ereignisse, wie beispielsweise der Kaisertag-Ausflug von acht Klassen der Meraner Knabenschule auf Schloss Tirol im Dezember 1908 wurden zuweilen von Gruppenaufnahmen vor historischer Kulisse begleitet: Viele der jugendlichen Ankömmlinge, ja die meisten, hatten dieses Schloß von innen noch gar nie gesehen. Photograph Matthaus mühte sich, gleich eine photographische Aufnahme herzustellen und bald darauf nahm man unter dem Klange eines flotten Turnerliedes Aufstellung im oberen großen Saale.22 Im übrigen sind Erinnerungsfotografien im Innenhof der Burg aus der Frühzeit der Fotografie eher rar. Eine Ausnahme bildet jene Stereofotografie, die unmittelbar vor dem Umbau des Mushauses von einem unbekannten Fotografen gemacht wurde und eine mondäne Dame auf einer Mauer sitzend zeigt.
Neben den von professionellen Fotografen zu bestimmten Anlässen arrangierten Bildern gewannen rein private Erinnerungsfotografien in der Zeit der "zweiten Erfindung" der Fotografie an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert immer mehr an Bedeutung. Die vielen privaten Ausflügler und Touristen auf Schloss Tirol waren nun durch technische Vereinfachungen der Apparate und Standardisierungen im Aufnahme- und Entwicklungsprozess in der Lage, sich ihre eigenen Bilder mit nach hause zu nehmen. Zumeist landeten diese Fotografien – oft mit persönlichen Bildunterschriften versehen – in Alben über Reisen oder den Kuraufenthalt in Meran, der einen quasi obligatorischen Besuch von Schloss Tirol beinhaltete. In der Zwischenkriegszeit kamen auch bereits die ersten s/w Diapositive zu Projektionszwecken auf. Die Übergänge von der Bildproduktion der Berufsfotografen, die ihr Handwerk perfekt beherrschten, engagierten Amateuren mit hohen ästhetischen Ansprüchen und technischer Kompetenz und den reinen Knipsern23 wurden in dieser Phase der Demokratisierung des Mediums immer fließender. Und hier gewann das Medium bei den einsetzenden Touristenströmen auf Schloss Tirol plötzlich eine völlig neue Bedeutung. Selbst wenn die sozialen Gebrauchsweisen und Funktionen zwischen privater und professioneller Fotografie durchaus unterschiedlich waren, Schloss Tirol behielt seine wichtige Funktion als zentraler visueller Marker. Freilich kamen die für das private Album bestimmten Bilder von ihrer fotografischen Qualität nicht an die professionelle Fotografie heran. Man vergleiche etwa die beiden Amateurbilder aus zwei unterschiedlichen Alben mit der Komposition des identischen Sujets aus dem Atelier Johannes: Die Profis produzierten und die Privaten reproduzierten jene Bildklischees, die schließlich in der Ansichtskartenproduktion massenhafte Verbreitung fanden.
Durch die neuen gesellschaftlichen Bedingungen und technischen Innovationen war das Berufsbild des Fotografen im 20. Jahrhundert einem deutlichen Wandel unterworfen. Für den niedergelassenen Fotografen waren die immer zahlreicher werdenden Amateure Konkurrenz und potentielle Kundschaft zugleich. Die Touristen kauften in den Fotogeschäften nicht nur Fotografien und Ansichtskarten, sondern auch Kameras und Zubehör, ja sie ließen sich unter Umständen auch ihre Negative entwickeln und Abzüge ausarbeiten. Paradigmatisch für diesen Wandel war die Entwicklung des bedeutenden Fotografen Franz Peter (1854-1934), der ab 1894 ein florierendes Fotogeschäft in Meran aufbaute. Wie die meisten seiner Kollegen – 1912 gab es in Meran bereits 12 kommerzielle Fotografen – führte er in seinem Bilderangebot auch Ansichten von Schloss Tirol.24
Es war jedoch Peters unmittelbarer Konkurrent Leo Bährendt (1876-1957), der das fotografische Bild von Schloss Tirol in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am nachhaltigsten prägen sollte.25 Seit 1902 in Meran ansässig, erlebte er unmittelbar die Errichtung des Bergfrieds 1903 sowie die Umbauarbeiten im Nordtrakt vor dem Ersten Weltkrieg, die Schloss Tirol das noch heute gültige äußere Bild gaben. Leo Bährendt war es, der in zahlreichen fotografischen Ausflügen die Burg von allen Seiten erkundete und sich dabei immer wieder selbst porträtierte. Er lieferte den Verantwortlichen für Tourismus und Kurverwaltung in den 1920er und 1930er Jahren jene zeitlosen Ikonen, die in der Bewerbung der Region bisweilen noch heute Gültigkeit haben.26 Hierfür war ihm jedes Mittel recht, und er scheute sich auch nicht, Erdpyramiden bildlich zu verschieben oder hängende Trauben und blühende Obstbäume in seine eigenen, in die Jahre gekommenen Fotografien nachträglich einzukopieren. Es war sicherlich kein Zufall, dass Leo Bährendt seine Fotografien in den seltensten Fällen genau datierte. Sie sollten für ihn sowohl aus ästhetischen wie auch aus kommerziellen Gründen längere visuelle Halbwertszeiten aufweisen als die schnellen Schnappschüsse der Touristen. Nicht zufällig versuchte sich Leo Bährendt auch als Maler – oder besser als Übermaler – seiner eigenen Fotografien, wie zwei Beispiele mit Motiven von Schloss Tirol belegen.27 Schließlich war Leo Bährendt auch jener Fotograf, an dem sich am deutlichsten die Schnittstelle zwischen Fotografie und Postkarte zeigen lässt: In alter Manufakturlogik stellte er seine Postkarten als s/w Fotografien mit rückseitigem Aufdruck her und schloss damit den Kreis im Produktionsprozess zwischen den beiden populärsten Bildmedien des 20. Jahrhunderts. Bährendts Ansichten von Schloss Tirol, die das äußere Bild ebenso wie den herrlichen Ausblick, die symbolische Bedeutung ebenso wie die bauhistorischen Besonderheiten der Burg thematisieren, sind dafür exemplarisch.
Leo Bährendts Schaffen war von einer allgemeinen Umbruchphase in der Fotografie, aber auch von den historischen Ereignissen der Zwischenkriegszeit geprägt. Trotz der politischen Spannungen nach dem Anschluss Südtirols an Italien – oder vielleicht gerade deshalb – waren seine Fotografien auf den ersten Blick unpolitische Bilder. Dennoch wurden sie – wie viele andere Abbildungen von Schloss Tirol aus dieser Zeit – durch den politischen Kontext ideologisch aufgeladen. "Die politische Lage nach 1918", so betont Gunther Waibl in seiner Sozialgeschichte der Photographie in Südtirol 1919-1945 "ließ die Dimension historischer Bedeutung von Schloß Tirol zu einer politischen werden: die Entnationalisierungspolitik des Faschismus hatte das Bedürfnis nach Bezugs- und Integrationsobjekten ungemein forciert; nicht zuletzt durch das Verbot des Namens ‚Tirol’ (1923) orientierte sich dieses Bedürfnis, stimuliert durch die Medien, naheliegenderweise am Stammschloß des Landes."28 Solch deutliche Anspielungen lassen sich etwa in manchen Fotografien von Wolfram Knoll finden, wie beispielsweise jener des Fahnenschwingers auf dem Weg nach Schloss Tirol.
Von gänzlich anderen Motiven geleitet waren jene Fotografen, die im Auftrag von Bauforschern, Baumeistern oder Denkmalschützern seit den großen Renovierungsarbeiten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer wieder die baulichen Veränderungen von Schloss Tirol dokumentierten. Zuweilen finden sich bereits in der Frühzeit aussergewöhnliche Dokumente, wie die beiden Fotografien um 1890 aus dem Atelier Bresslmair, die die letzte Phase der Renovierungsarbeiten unter Schönherr festhalten. Die Aufnahmen, die heute wie ein Fehlersuchspiel funktionieren, wurden wahrscheinlich von Lorenz Bresslmairs Sohn Hermann – sein Vater war 1882 verstorben – angefertigt und belegen ein ebenso unbestechliches wie unprätentiöses Auge des Dokumentarfotografen. Bisweilen kann aber auch eine simple fotografische Postkarte wesentliche Aufschlüsse über eine Bauetappe geben, wie jene von Johann Amonn aus Bozen, die zwar mit 1905 datiert ist, deren fotografische Vorlage aber einige Jahre zuvor entstanden sein musste.29 Auch aus der späteren Phase der Umbauarbeiten im Nordtrakt können chronologisch-fotografische Bilderreihen aus verschiedenen Zeitepochen gebildet werden, die eine Bauentwicklung im Zeitraffer darzustellen vermögen (46-49). Systematisch hielten jedoch erst die Fotografen des Südtiroler Landesdenkmalamtes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wichtige Eingriffe und bauliche Maßnahmen auf Schloss Tirol fest. Ein persönlicher Impuls ging dabei von Nicolò Rasmo aus, der nicht nur ein Standardwerk über Schloss Tirol und seine Kunstdenkmäler schrieb30, sondern sich auch als leidenschaftlicher Fotograf betätigte.31 Er glaubte an die Bedeutung der Fotografie als Dokument, weil er um die Vergänglichkeit der steinernen Zeugnisse und die Zeitbedingtheit denkmalschützerischer Eingriffe wusste.
Am Ende dieser fotografischen Zeitreise über ein knappes Jahrhundert und über die unterschiedlichsten Gebrauchsweisen des Mediums hinweg bleibt dem heutigen Besucher am Beginn einer neuen Ära von Schloss Tirol also nur noch die Frage: Wie wird die Burg wohl in hundert Jahren aussehen? Vielleicht wäre es ratsam, noch heute ein Foto zu machen oder einfach eine Postkarte zu kaufen. Aber Vorsicht, auch diese Bilder sind vergänglich.
Dieser Aufsatz erschien im Ausstellungskatalog Gruß von Schloss Tirol – Saluti da Castel Tirolo. Historische Fotografien und Ansichtskarten, hrsg. durch das Südtiroler Landesmuseum Schloss Tirol, 2003, Bd. 1, S. 21 – 36.
Anmerkungen
1 Eintrag vom 25. Juni 1854. Seit 1832 wurden auf Schloss Tirol Besucherbücher geführt, die derzeit in einem großen Forschungsprojekt transkribiert und in einer Datenbank verwaltet werden, die ca. 250 000 Einträge enthält. In der Folge zitiert als BB.
2 Jakob August Lorent war lange Zeit ein Vergessener der Fotogeschichte, der erst durch die Forschungen von Franz Waller wiederentdeckt wurde. Vgl. WALLER, Franz Volker: "Wahren Werth hat allein die Photographie", Zum hundertsten Todestag des berühmten Mannheimer Photographen Jakob August Lorent, in: Mannheimer Hefte 1984/2, S. 100-110. Herrn Waller verdanke ich auch einige zusätzliche Hinweise zu Lorents Zeit in Meran. Herzlichen Dank an Herrn Florian Pichler, der diesen wertvollen Kontakt herstellte.
3 Das Forum Internationale Fotografie, Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim verwaltet heute den größten Teil der erhaltenen Bilder. Herrn Claude Sui sei herzlich für die Reproduktionsgenehmigung der Schloss-Tirol-Motive gedankt.
4 BB, Eintrag vom 22. Oktober 1874: Dct. von Lorent, schlau / Kathinka v. Lorent, sanguinisch.
5 Malerische Reise durch Tirol. Von der Romantik bis zum Impressionismus, bearbeitet von Gert Ammann, Eleonore Gürtler und Carl Kraus, Dorf Tirol, LMST Innsbruck/TLMF, Innsbruck 1992. Ein weiteres Beispiel wäre der
Ausstellungskatalog Ferdinand Runk. Sammlung der vorzüglichsten mahlerischen Gegenden von Tyrol / Raccolta delle più memorabili vedute del Tirolo, Landesmuseum Schloss Tirol 1999.
6 VOIGNIER, J. M. : Répertoire des photographes en France au dix-neuvième siècle, Le Pont de Pierre, Paris, o. D., S. 148.
7 Bulletin de la Société Française de Photographie, Procés verbal de la séance du 5 février 1875. Herzlichen Dank an Clément Chéroux (Paris) für die Bereitstellung der Dokumente in der SFP.
8 Herzlichen Dank an Martin Bitschnau für die Bereitstellung dieser beiden wertvollen Fotografien aus seiner Privatsammlung.
9 Der Weg in den Süden / Attraverso le Alpi. Reisen durch Tirol von Dürer bis Heine / Appunti di viaggio da Dürer a Heine, Ausstellungskatalog des Landesmuseums Schloss Tirol 1998.
10 ZANNIER, Italo: Le Grand Tour nelle fotografie die viaggiatori del XIX secolo, Canal & Stamperia Editrice, Venezia 1997.
11 BB, Eintrag vom 17. August 1884. Alfred Stieglitz trug sich mit Wohnsitz New York ein.
12 Einige Beispiele aus Einträgen im Besucherbuch: Eduard Cramolini, Wien, 25.6.1853; Moritz Lotze, Verona, 30.7.1860; Eduard Echtler, Breslau, 1.7.1865; L. Hardtmuth, Ischl, 17.10.1866; Olga Stockmann Knozer, k. k. Hoffotografin
in Wien, 8.10.1886; Wilhelm Bachmann, Stuttgart, 19.3.1887; Sig. Kratochwill, Vöslau, 2.5.1888; Alphons Adolph, Hoffotograf in Passau, 2.9.1901; Karl Hintner, Salzburg, 19.6. 1903; Robert Glasser, Hamburg, 9.1.1910; Karl Müller,
Memmingen, 23.6.1914; Albert Meyer, Hoffotograf in Dresden/Hannover, 13.4.1916.
13 Zur Geschichte der Fotografen in Meran vgl. PICHLER, Florian / TSCHOLL, Egon: 150 Jahre Meraner Photodokumente, 1839 – 1989, Art Meran 1989.
14 Vgl. WAIBL, Gunther: Von Promenaden und Fotografen, in: HAID, Oliver (Hg., unter Mitarbeit von Hartmut Prünster und Gunther Waibl), Franz Peter, Fotograf in Meran 1894-1935. Mit bewahrendem Auge, Raetia Photographica, Bozen 1994, S. 7-9.
15 BB Eintrag vom 14. 6.1871.
16 BB Einträge vom 7. 10. 1860 und 20. 3.1864.
17 BB Einträge vom 11. 6.1879 und 14.10.1880.
18 BB Eintrag vom 20. 5. 1874.
19 Leider gibt es noch kaum Forschungen über diesen bedeutenden Fotografen. Für Ausstellung und Katalog konnten wir von einigen ausgewählten Glasplatten Neuabzüge anfertigen. Dafür danken wir der Familie Johannes, speziell Herrn Anton Johannes für seine praktische Hilfe.
20 LADURNER-PARTHANES, Matthias, Gratsch, altes Dorf am Fuße des Schlosses Tirol im Hinblick auf die Zeit der letzten Jahrhundertwende, mit Beiträgen über "unsere Vereine" von Toni Kiem "Leiter". Hg.: Musikkapelle und Freiwillige Feuerwehr, Gratsch, 1981, S. 127. Das Sujet der Saltner wurde auch zu einem beliebten Ansichtskartenmotiv. Vgl. dazu den Beitrag von Roland Halbritter im Ansichtskartenteil. Zu den Saltnern von Dorf Tirol vgl. "PLENT UND CALVILLE". Dorf Tirol 1850 – 1950... Ein Jahrhundert in Bildern und Berichten, hrsg. von der Jungen Generation Dorf Tirol und dem Arbeitskreis Brunnenburg. Redaktion: Siegfried de Rachewiltz, Rita Pircher, Walter Schweigkofler, Dorf Tirol 1987, S. 48-49.
21 Meraner Zeitung, 23. Februar 1898, zit. nach Siegfried de Rachewiltz, Dorf Tirol und seine Schützen. Eine Chronik (= Schriften des Landwirtschaftlichen Museums Brunnenburg N. S. Nr. 12), Meran 2000, S. 170.
22 Meraner Zeitung, 8. Dezember 1908. Dank an Siegfried de Rachewiltz für den Hinweis auf diesen Artikel.
23 STARL, Timm: Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, Ausstellungskatalog Fotomuseum im Münchner Stadtmuseum, München/Berlin 1995.
24 Zu Franz Peter vgl. die ausgezeichnet dokumentierte Arbeit von HAID, Oliver (Hg.): Franz Peter. Fotograf in Meran 1894-1935 a.a.O. Zum Kapitel Burgen vgl. insbesondere S. 20-22.
25 Zur Biografie von Leo Bährendt vgl. den im Meraner Stadtmuseum verwahrten Nachlass sowie die Publikation von WAIBL, Gunther: Der Photograph Leo Bährendt. Motiv und Motivation, in: Leo Bährendt, Südtirol an der Schwelle zur Moderne, hrsg. von Gunther Waibl, Edition Raetia, Bozen 1992, S. 21–27.
26 Im Bestand der Kurverwaltung, der heute im Stadtmuseum Meran aufbewahrt wird, befinden sich mehrere Alben mit Fotografien, die Bährendt sozusagen als fotografisches Vermächtnis hinterlassen hatte. Aus diesem Bestand wurden die Reproduktionen für den Katalog hergestellt. Die rund 7000 originalen Glasplatten befinden sich heute im Amt für Audiovisuelle Medien in Bozen. Herzlichen Dank an beide Institutionen für die Abdruckgenehmigungen.
27 Sammlung Landesmuseum Schloss Tirol, M 67 und M 68.
28 WAIBL, Gunther: Photographie und Geschichte – Sozialgeschichte der Photographie in Südtirol 1919-1945, Dissertation, Wien 1985, S. 670. Waibl verweist in seiner Arbeit in erster Linie auf die jeweiligen Publikationskontexte der zahlreichen Schloss-Tirol-Abbildungen in der Zwischenkriegszeit.
29 Er besuchte nachweislich im Jahr 1894 Schloss Tirol. Eintrag im BB vom 29. 7. 1894.
30 RASMO, Nicolò: Schloss Tirol. Reihe Kultur des Etschlandes Nr. 9, Bozen 1970.
31 Rasmos fotografischer Nachlass wird heute im Stadtmuseum Bozen verwahrt.
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